Unbeschreiblich....

Mit dem Boot durch Venedig  -  die Vogalonga 2017

Was für einen Tennisspieler Wimbledon ist, für einen Radbegeisterten vielleicht die Tour de France, das bedeutet für Wassersportler die Vogalonga in Venedig. Alljährlich treffen sich über Pfingsten Tausende von Ruderern und Paddlern in der Lagunenstadt, um gemeinsam bei einer einzigartigen Regatta ihrer Sportbegeisterung freien Lauf zu lassen. Einen ganzen Tag lang gehören die Stadt mit ihren verwinkelten Kanälen und die sie umgebende Lagune den Wassersportlern. Für Motorboote herrscht während dieser Zeit weitgehend Fahrverbot. Dort, wo sonst Vaporetti, Lastkähne und schnelle Motoryachten umherflitzen, hohe Wellen auftürmen und die Touristengondeln vor sich her scheuchen, geht es am Pfingstsonntag ausnahmsweise einmal nicht um Schnelligkeit. Was zählt, ist die Teilnahme, dabei sein bei diesem großen Volksfest auf dem Wasser. Im Gewühl der Boote mitschwimmen auf dem großen Rundkurs über 32 Kilometer, der vom Markusplatz aus über die Lagune nach Norden im Zickzack bis Burano, dann weiter nach Süden, durch Murano, vorbei an der Friedhofsinsel San Michele bis zur Nordspitze Venedigs und dann abwärts durch den Canal Grande zum Ziel vor der Kirche Santa Maria della Salute führt. Nichts für Gelegenheitspaddler, man muss schon über eine gewisse Ausdauer verfügen, um da mithalten zu können. Dennoch zieht die Veranstaltung jedes Jahr mehr Wassersportbegeisterte an. Zur diesjährigen dreiundvierzigsten Vogalonga hatten sich ungefähr achttausend Teilnehmer mit etwa zweitausend Booten angemeldet. Ruderboote in allen Besetzungen, Drachenboote, traditionelle venezianische Gondeln, Kajaks, Kanadier, Stand-Up-Paddler, Faltboote, Gummiboote, Tretboote wohin das Auge schaute. Vertreten war alles, was schwimmt und mit Muskelkraft fortbewegt wird.

Auch der DSW war nach längerer Pause in diesem Jahr wieder mit sieben Booten vertreten.

Schon bei der Anfahrt nach Venedig konnte man beobachten, dass sich Karawanen mit Bootsanhängern in Richtung Süden bewegten. Auf dem Campingplatz Fusina, den wir wieder als Standquartier ausgewählt hatten, füllten sich in den Tagen vor der Regatta die Reihen, und hätten wir nicht lange vorher reserviert, hätten wir wohl in den Booten nächtigen müssen. Ein Teil unserer Gruppe war aus Zeitgründen mit dem Flugzeug angereist, die anderen kamen mit dem Auto und hängten noch ein paar Tage Urlaub dran. Wenn man schon mal in Venedig ist...

Schon vor Wochen hatten wir uns im Internet als Teilnehmer registrieren lassen. Nun mussten wir nur noch beim Organisationskomitee am Fischmarkt unsere Startnummern abholen. Alles bestens organisiert. Vom Balkon des alten Palazzo aus hatte man einen hervorragenden Blick über den Canal Grande. Gegenüber zwei riesige Hände, die aus dem Wasser aufragten und einen alten Palast zu stützen schienen. Eines der zahlreichen in der Stadt verteilten Kunstwerke der gleichzeitig stattfindenden Biennale. Hier würden wir also am Sonntag entlangpaddeln. Wir konnten es kaum erwarten.

Bereits am Samstag ließen wir die Muskeln spielen und absolvierten eine zünftige Trainingseinheit über zwanzig Kilometer, um uns auf das große Ereignis am nächsten Tag vorzubereiten. Quer über die Lagune steuerten wir eine kleinere Insel an, wo es in einem stilvollen venezianischen Restaurant ein schattiges Plätzchen unter großen Bäumen und kühle Getränke gab. Denn das Paddeln bei der Vogalonga ist nicht nur wegen der langen Strecke anstrengend, sondern auch wegen der Sonne, die um diese Zeit bereits gnadenlos vom blauen Himmel brennt. Da freut man sich über jedes kühle Lüftchen oder kleine Wölkchen, das die Hitze erträglicher macht. Beim Rückweg, der durch ein Gewirr kleiner Kanäle führte, die oft kaum breiter waren als unser Paddel, bekamen wir schon einmal einen ersten Eindruck von der morbiden Schönheit und dem Reiz dieser Stadt, die unter dem Beinamen „La Serenissima“ einst fast ein Jahrtausend lang das östliche Mittelmeer und Teile Oberitaliens beherrschte. Während gewöhnliche Venedigtouristen Kirchen und Museen bestaunen oder auf dem Markusplatz Tauben füttern, konnten wir vom Wasser aus ungewohnte Einblicke in die versteckten Winkel einer Welt genießen, die dem normalen Besucher verschlossen bleibt.

Zurück auf dem Campingplatz, treffen wir die Vorbereitungen für den nächsten Tag. Unsere „Schnuppertour“ hat gezeigt, dass wir doch mit relativ hohen Wellen zu rechnen haben, die die Boote draußen auf der Lagune ganz schön zum Schaukeln bringen können. Also sind Spritzdecken angesagt, Schwämme werden verstaut und die Steueranlage noch einmal kontrolliert. Haben wir genügend Wasser dabei oder auch zur Not ein Blasenpflaster?

Wir müssen früh raus am nächsten Tag. Um halb neun sollen sich die Boote am Start sammeln. Da wir von unserem Standplatz aus bis dort hin etwa eine Stunde brauchen, brechen wir schon kurz nach sieben auf, um in Ruhe in Richtung Markusplatz zu paddeln. Noch sind einige Motorboote und größere Fähren unterwegs. Der Wellengang im Giudecca-Kanal ist beträchtlich und fordert seine ersten Opfer. Direkt vor uns kentert ein Kanadier, der allerdings auch ziemlich überladen ist. Schade um die Kamera, die die Frau verzweifelt in die Höhe reckt. Die vier Besatzungsmitglieder, allesamt ohne Schwimmweste, werden von einem Boot der Küstenwache gerettet, das sofort zur Stelle ist. Etwas weiter säuft ein vollbesetztes Drachenboot in Ufernähe ab. Die Besatzung rettet sich schwimmend an Land. Für sie ist die Vogalonga bereits beendet, bevor sie richtig begonnen hat. Aber sie sind immerhin dabei gewesen.

Immer dichter wird der Strom der Boote, die sich in Richtung Startplatz bewegen. In dem Becken zwischen Markusplatz, Santa Maria della Salute und der gegenüberliegenden Insel San Giorgio tummelt sich kurz vor dem Start ein unüberschaubares Gewimmel von Booten, dessen Dimensionen sich allenfalls vom Hubschrauber aus erfassen lassen, der über uns kreist. Später werden wir im Internet den Blick auch aus dieser Perspektive genießen können. Überall an den Ufern stehen Massen von Zuschauern und winken. Der Bürgermeister hält eine Ansprache, verweist auf die lange Tradition der Vogalonga. Als die Venedig-Hymne erklingt, recken sich zum Gruß Tausende von Paddeln, Rudern und Händen in die Höhe. Dann, Punkt neun Uhr, ertönt ein Böllerschuss, und unter dem Geläute sämtlicher Kirchenglocken Venedigs setzt sich der Zug der Boote langsam in Bewegung. Nicht Wenigen werden in diesem anrührenden Moment Tränen in den Augen gestanden haben. Emotion pur!

Wenngleich behauptet wird, die ersten Teilnehmer würden regelmäßig bereits nach knapp drei Stunden das Ziel erreichen, geht es ja bekanntlich nicht um Schnelligkeit. Wir haben Zeit, unsere Umgebung zu beobachten. Wassersportler aus ganz Europa sind hier zusammengekommen. In den Nationalfarben geschmückte Boote mit Wimpeln, phantasievoll dekorierte Drachenboote mit Galionsfiguren, klassisch mit Blumenschmuck verzierte venezianische Ruderboote, einheitlich kostümierte Bootsbesatzungen, alles ist vertreten und lässt sich im Vorbeifahren bewundern. Sogar ein australisches Boot zeigt stolz seine Flagge. Auch wir DSWler haben unsere Boote mit Deutschland-Girlanden geschmückt, tragen alle unsere roten Hemden und Mützen mit dem DSW-Aufdruck. An den Engstellen des Kurses regelt die Wasserschutzpolizei den Verkehr. Eigentlich wollten wir als Gruppe zusammenbleiben, aber bereits nach kurzer Zeit haben wir uns aus den Augen verloren. Immer weiter zieht sich das Feld auseinander. Der lange Kahn aus Nordfriesland mit der hoch aufragenden, in braunes Fell gehüllten Schaufensterpuppe dient uns als Leuchtturm. Neben uns fährt ein traditionelles Boot vom Comer See. Es sieht aus wie ein schwimmender Planwagen. Drei Männer stehen an den langen Rudern, einer steuert im Heck. Vorne räkelt sich ein fünfter „Matrose“. Als er vor sich ein mit vier attraktiven jungen Frauen besetztes Ruderboot erblickt, reckt er sich als Gallionsfigur über den Bug und treibt unter lautem Liebesseufzen seine Kameraden an, schneller zu rudern. Die Angebeteten lassen die schmachtenden Jünglinge bis auf eine Bootslänge an sich herankommen und ziehen dann unter lautem Lachen mit einem kurzen Spurt davon. Von hinten naht sich das rhythmische Bum-Bum eines Drachenboots. Zwanzig einheitlich in Pink gekleidete Frauen schwingen im Takt der Trommel das Paddel. Eines von vielen Booten der europaweiten Aktion „Paddeln gegen den Krebs“. Dieses hier kommt aus Frankreich. Ihre belgischen Kolleginnen haben etwas Probleme mit dem Rhythmus. Der einzige Mann an Bord, der Steuermann, muss immer wieder laut mitzählen, weil die Trommlerin ständig schneller wird und ihre Mitpaddlerinnen etwas überfordert. Ein schneller Ruder-Vierer mit Steuermann prescht vorbei. Ältere Herren, hanseatisch blau-weiß uniformiert, mit Kapitänsmütze. Ein ganz schönes Tempo haben die drauf. Ob das grüne Gummiboot neben uns wohl bis zum Ziel durchhält? Der mit dem Tretboot dümpelt jedenfalls schon weit abgeschlagen irgendwo hinter uns. Totenkopf-Flaggen wehen im Wind, und viele Boote haben die traditionelle rote Fahne Venedigs mit dem goldenen Löwen gehisst als Reverenz an unsere Gastgeber.

Die Strecke zieht sich. Immer wieder landen Gruppen auf einer der Sandbänke an. Irgendwo muss man sich während der langen Tour ja schließlich erleichtern. Bei dem spärlichen Bewuchs sind die Männer eindeutig im Vorteil. Die nächste Flut wird dann als natürliche Wasserspülung ihre Arbeit verrichten.

Auf der Insel Burano treffen sich alle DSWler wieder zu einer kurzen Rast. Dann geht es weiter. Schon jetzt ist die Hitze beträchtlich, und wir haben erst knapp die Hälfte der Strecke hinter uns. Vom Ufer aus werden wir mit Flaschen beworfen. Das ist nicht etwa als unfreundlicher Akt aufgebrachter Venezianer zu verstehen, die sich in ihrer Ruhe gestört fühlen, sondern Teil der Verpflegungsstrategie der Vogalonga-Organisatoren. Schließlich soll niemand auf offener See verdursten. Und da das Wasser der Lagune eher ungenießbar ist, regnet es eben Plastikflaschen mit Mineralwasser. Dazu gibt es fliegende Bananen. Nicht alle erreichen ihr Ziel. Wir fischen vier Stück aus dem Wasser, können einer fünften gerade noch ausweichen und nehmen so frisch gestärkt die nächste Etappe unter den Kiel.

Die Strecke führt quer durch Murano, vorbei an bunten Häusern, deren Bewohner fröhlich aus den Fenstern winken. Einige halten den Gartenschlauch bereit und spenden den vorbeifahrenden Bootsbesatzungen auf Verlangen eine kühle Dusche.

Dann geht es ein letztes Mal über die Lagune zurück zur Hauptinsel. Bei der Einfahrt in den Canale di Cannareggio werden wir wieder von Tausenden Zuschauern begrüßt, die am Ufer stehen oder an den Tischen der zahllosen Restaurants sitzen. Besonders schön geschmückte Boote werden mit viel Applaus bedacht, und Freunde mit lautem Jubel angefeuert. Eine besondere Überraschung hat sich die Tauchbrigade der Feuerwehr ausgedacht. Immer wieder taucht plötzlich ein Kopf aus dem trüben Wasser des Kanals auf und erschreckt Zuschauer wie Bootsbesatzungen. Dann die Einfahrt in den Canal Grande. Ein Palast nach dem anderen zieht am Boot vorbei. Architekturgeschichte par excellence. Hinter der Kurve taucht die Rialtobrücke auf. Von oben tönt ein lauter Ruf: „Ahoi DSW!“ Unsere nichtpaddelnden Begleiter haben sich hier postiert, um uns zu begrüßen und Fotos zu schießen. Ein überwältigendes Gefühl, unter der Brücke hindurchzugleiten. Einmal auf dem Canal Grande paddeln. Heute geht dieser Traum in Erfüllung. Uns entgegen kommen die ersten Boote, die hinter dem Ziel umgedreht haben, um sich eine zweite Befahrung der „Hauptstraße“ Venedigs, dieses Mal in anderer Richtung, zu gönnen. Heute gehört der Canal Grande den Wassersportlern ganz alleine. Auch auf der Academia-Brücke winkende Menschen. Viele der Touristen, die zufällig in die Vogalonga hineingeraten sind und sich wundern, weshalb heute keine Vaporetti fahren, werden uns hinterher fast ein bisschen neidisch fragen, was das denn für eine spektakuläre Veranstaltung war.

Müdigkeit? Muskelkater? Kein bisschen! Man könnte noch eine ganze Weile so weiterpaddeln. Aber da vorne an den Stufen vor Santa Maria della Salute wartet schon das Empfangskomitee. Die Boote und ihre Besatzungen werden per Lautsprecher begrüßt. Auch der DSW ist am Ziel. Wir bekommen unsere Urkunden und eine „Siegermedaille“ zum Umhängen. Ein T-Shirt mit dem aufgedruckten Symbol der Vogalonga 2017 gab es schon bei der Anmeldung. Stolz streifen wir es uns über: Wir haben die Vogalonga geschafft!

Später sitzen wir hungrig und durstig im Restaurant am Zattere-Ufer. Auf dem Giudecca-Kanal, den sich die Motorboote inzwischen zurückerobert haben, herrscht jetzt wieder munteres Treiben. Der Himmel verdunkelt sich. Ein schwimmendes Hochaus zieht langsam vorbei, begleitet von zwei Schleppern, die das Ungetüm von über dreihundert Metern Länge vorsichtig durch das Gewimmel bugsieren. Welch ein Missverhältnis zwischen der Schönheit der „Serenissima“ und dem modernen Geprotze eines solchen schwimmenden Kolosses. Wir sind uns einig: Keine Kreuzfahrt kann je so schön sein wie die Vogalonga.   

Johannes Kollmann

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